Ulrike Rainer, Flucht vor Armageddon

Viertes Kapitel Auszug

Australien, Juli 1989, Top End nahe Darwin

Im Auto erwog er die Möglichkeiten, die ihm blieben. Er fuhr nicht gleich los, sondern lehnte den Kopf an das Fenster und spielte mit dem Zündschlüssel.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Kapitän anzurufen und ihm mitzuteilen, daß er nicht rechtzeitig in Singapur wäre. Er ging zurück in die Abflughalle, wechselte Geldscheine in Münzen und fand eines der orangen Telefone, von welchen aus man auch nach Übersee telefonieren konnte.
"Hey, auf welchen Trip gehst du jetzt?", hörte er eine männliche Stimme hinter sich. Manfred fühlte sich nicht angesprochen, er kramte in seinem Rucksack nach dem Adressbuch.
"Hey, du! Singapur!"
Manfred blickte sich um, und erkannte den Burschen der sich hinter ihm um ein Ticket angestellt hatte, wieder. "Du standest wohl auch ganz unten im Computer?"
"Uuuhh, weit, weit unten. So weit, daß die Lady mich nicht einmal nach meinem Namen fragte. Ich gehöre zur Kategorie mit den Endnummern ab 700 irgendwas. Nur im Evakuierungsfall würden sie mich ausfliegen, aber auch dann erst mit dem allerletzten Doppeldecker der Schaftreiber-Airways."
"Ich rufe mein Schiff an und dann werde ich weitersehen." Sorgfältig wählte er den Code. Manfred hatte eine Verbindung zu seinem Schiff bekommen, er hörte es knacken und krachen, schließlich hob am anderen Ende jemand ab. Die Stimme des Kapitäns kam mit einiger Verzögerung über die Leitung. ...
"Sydney?" fragte der Junge. Er warf einen vielsagenden Blick auf Manfreds Autoschlüssel. "Willst du mich 700 irgendwas nennen oder Edgar**?"
"Du willst auf meine Liste, stimmt's? Und wohin?"
"Richtung Ostküste. Hast du Platz für mich und den Tide Trickser?"
Die Fahrt würde lang werden, sich quer über den Kontinent auf Straßen hinziehen, die kein Ende nahmen und sie würden am Tag, wenn sie Glück hatten, vielleicht drei, vier Autos zu Gesicht bekommen. Da ist es gut, wenn man nicht allein ist.

Einige Tage später packten Manfred und Edgar ihre Rucksäcke, Proviantkartons, Wasser- und Benzinkanister in den Chrysler und fuhren gegen Süden. Der Tide Trickser wurde aufs Dach geschnallt. Mit dem Schwert nach oben, surfte Edgars Board kopfüber Tausende von Kilometern durch die Wüste, der feine Sand wirkte auf den Belag wie Schmiergelpapier und das Brett war also Edgars Tribut an "den abgefahrenen Ritt durch die Gegend, die sie damals nicht am Mars haben liegen lassen."

Hinter Katherine beginnt das Outback, das wilde, kaum besiedelte Australien, das vertrocknete Herz des Kontinents. Der Stuart Highway ist zwar durchgehend gepflastert, und es gibt im Abstand von einigen hundert Kilometern Roadstations mit Zapfsäulen surrenden Generatoren, Wassertanks und einem meist eingeschossigem Gebäude, manchmal eine Blockhütte, manchmal gemauert, doch ermüdet die Fahrt auf der pfeilgeraden Straße, die in den Himmel zu führen scheint. Es ist für Menschen, die nicht daran gewöhnt sind, ein fast unheimliches Gefühl, Kilometer um Kilometer dieses Asphaltbandes abzuspulen, anzuhalten, sich umzudrehen und genau dasselbe Bild in der anderen Richtung vor Augen zu haben. Es ist wie in einem Alptraum: Man sieht das Ziel , aber man kommt ihm nie näher, so lange man auch fährt.
"Falls wir jemals in Queensland ankommen, zeige ich dir die besten Backpaker's-Hotels mit Fließwasser und Betten im Schatten."
"Du weißt, ich will runter nach Sydney. Liegt ja nicht gerade in Rufweite."
Edgar zog die Knie an und stützte seine nackten Füße auf dem Armaturenbrett ab. Über die sonnenverbrannte Haut hatte sich bis zum Knöchel eine Staubschicht gelegt, die aussah, wie hauchdünne Socken.
"Dort gibt es die besten Jobs. Du kannst praktisch nicht pleite werden in diesem Paradies. Bring' mich nach Queensland und ich mache dich zum Tellerwäscher!" Er fummelte am Radio, wippte im Takt der Musik und drehte den Schirm seiner Baseballkappe in den Nacken.
"Work prohibited – arbeiten verboten – steht auf meinem Visum. Vermutlich hast du auch nur ein Urlaubsvisum, also weißt du ja, wovon ich spreche. Wenn sie uns erwischen, schmeißen sie uns raus. Und wir bekommen eine Einreisesperre."
"Ich bin sowieso zum Teil auch gegen das Arbeiten", erwiderte Edgar.
Leute wie Edgar und Manfred hießen bei den Einheimischen "Drifters" – Treibende. Es sind Menschen die nie lange an einem Ort bleiben, jung und genügsam sind und zumindest einige Jahre ihres Lebens der Neugier opfern, bevor sie sich niederlassen und ein bürgerliches Leben beginnen. Manche schaffen den Sprung in "geordnete Bahnen" nie, aber die meisten packt nach ein oder zwei Jahren doch die Sehnsucht nach mehr Geborgenheit. 
Edgar war Fatalist und noch nicht lange genug unterwegs, um an den Punkt zu kommen, an dem er sich ein Zuhause wünschte. Manfred war an diesem Punkt. Zumindest manchmal freute er sich schon wieder auf Europa, aber Edgar verstand das nicht. "Wenn du schon einen Parkplatz in der Tiefgarage des Lebens suchst, kannst du doch vorher in Queensland auf dem Parcours der Freiheit noch ein bißchen Fun-Ralley fahren, oder?" Der Vorschlag hatte etwas für sich.
"Vielleicht mache ich das, in Tennant Creek werden wir es wissen", antwortete Manfred. Manchen Argumenten Edgars war einfach nicht beizukommen.

"Hör' dir das an! Das ist die zivilisierte Welt und genau dahin willst du zurück! Nichts als Krieg", blöckte Edgar, wobei er das Radio lauter drehte. Die Nachrichten waren voll von Berichten über Unruhen in Bougainville, einer Insel bei Papua Neuguinea, dem sie auch politisch untersteht. Rebellen in Bougainville forderten seit langem die Unabhängigkeit, hauptsächlich ging es um die reichen Erträge der Kupfer- und Goldminen, die zu einem hohen Prozentsatz an Papua Neuguinea abgeliefert werden mußten.
Der Nachrichtensprecher berichtete von der Schließung einer Kupfermine in Bougainville "aufgrund sezessionistischer  Aktivitäten", wie er sich ausdrückte. Der Konflikt zwischen Regierungstruppen Papua Neuguineas, der PNGDF (Papua New Guinea Defence Force) und der BRA (Bougainville Revolutionary Army), der bewaffneten Opposition, war dabei, sich auszuweiten.[i]

i] Amnesty International informiert über diesen Konflikt auf http://www.amnesty.org/ im Index unter ASA 34/06/97. Die Suchmaschine dogpile listet unter dem Begriff "Bougainville+Crisis" zahlreiche Links auf, die, da der Konflikt andauert (Herbst 99), ständig aktualisiert werden. Heiner Wesemann, Papua Neuguinea, Köln 1985, schildert die historischen Grundlagen. S.128ff; 304ff "

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